Charles de Gaulle: Frankreich und Deutschland

 

Am 3. Juli 1962 hält der General de Gaulle die folgende Ansprache anläßlich eines Staatsempfangs im Élyséepalast zu Ehren des deutschen Kanzlers Konrad Adenauer.

Ihr heutiger Staatsbesuch ist für Deutschland und Frankreich ein Schlüsselmoment. Aber diese Tatsache ist eine sehr erfreuliche. Wir feiern anläßlich ihres Aufenthaltes den gewaltigen Wandel der unsere Länder begriffen hat, von Erbfeinden zu entschlossenen Freunden und wir begrüßen in Ihnen einen der geschichtemachenden Baumeister dieses außerordentlichen Geschehens.
Bedeutet dies, daß Franzosen und Deutsche, weil sie heute eine Gemeinschaft bilden, die bewältigten Mühen und die gemachten Opfer auf beiden Seiten verleugnen müssen, die sie im Laufe einer rauhen Geschichte gemacht haben, in der sie so oft auf gegensätzlichen Seiten standen? Hat die deutsch-französische Rivalität, die so oft unsere Jahrhunderte erschütterte, die politische und strategische Konkurrenz der Eliten auf beiden Seiten, die zahlreichen Rufe zu den Waffen und die nationalen Leidenschaften, die in einem Wechsel von Siegen und Niederlagen und schließlich ruhmreichen Reihen von Gräbern führten, keine Berechtigung gehabt? Unsere Antwort muß sein: von soviel Blut und Tränen darf nichts vergessen werden. Denn wenn auch die eigentlichen Motive unserer Kriege schlecht waren, so unerfreulich ihre Abläufe, so zerstörend ihre Resultate, so war doch im Grunde eine gute Absicht der Beginn aller Streitigkeiten.
In Wirklichkeit haben Deutschland und Frankreich, als sie sich gegenseitig dominieren und dies schließlich auf ihre Nachbarn ausdehnen wollten, jeder nur den uralten Traum der Einheit gehabt, der seit zwanzig Jahrhunderten in den Seelen auf unserem Kontinent lebt. In den Bestrebungen von Karl V., Napoléon I., Bismarcks, Wilhelms II, Clemenceaus und sogar, ja sogar! in der Leidenschaft der sich während des letzten Krieges ein verbrecherisches Unterdrückerregime bediente um das deutsche Volk mitzuziehen, wie stark wirkten in diesen Bestrebungen die großartigen Erinnerungen an die römischen Kaiser, der Christenheit und Karl den Großen! Ursprung dieses Feuers welches immer auf den Ruinen der Reiche brannte ist eine starke und beständige Idee. Die Einheit Europas ist auf jeden Fall für Deutschland und für Frankreich in elementares Ziel.
Aber das Wunder unserer Zeit ist daß, wenn jeder darauf verzichtet den anderen zu dominieren, beide zusammen ihre gemeinsame Aufgabe herausstellen konnten. Durch das Bewußtwerden der Sinnlosigkeit ihrer Kämpfe haben sie sich einander zugewandt beeinflußt von der Situation in der Welt, in der wir jetzt stehen. Wenn die heutigen Zeiten die Distanzen verringern, die Wirtschaftsräume ausdehnen, die Aktionen konzentrieren und die gleiche unmittelbare Gefahr die Freiheit und Sicherheit bedroht, so entdecken Frankreich und Deutschland ihre Komplementarität ihrer Länder, ihrer Arbeit und ihres Geistes. Sie ermessen welche Summe die Vereinigung ihrer Möglichkeiten ergibt. Sie verstehen daß es keine Chance gibt, daß sich jemals Westeuropa - und noch weniger der alte Kontinent - vereinigt, wenn sie getrennt bleiben. Sie erkennen aber im Gegenteil das ihre Verbindung eine europäische Organisation ermöglicht, die die Politik, Wirtschaft und Verteidigung umfaßt und Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg einschließt; darauf hoffend das andere, insbesondere England, sich eines Tages anschließen werden; auf diese Art die freie Welt und die atlantischen Allianz erheblich verstärkend, einen mächtigen Beitrag zum Fortschritt der Entwicklungsleider leistend und selbst neue Zukunftsperspektiven für das Gleichgewicht und die Zusammenarbeit des ganzen Kontinents eröffnend wenn auf der anderen Seite der Mauer der Geist der Entspannung und des Friedens überhand nimmt.

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