von einem, der auszog und seine Mailbox zurückließ

(Fortsetzung)

eMails von 30 Monaten. Es gibt einen Mailalarm, der sagt "Sie haben 937 ungelesene Mails". Die Phantasie wurde von der Wirklichkeit überholt. Wie viele waren es? Vielleicht 4000, die Maschine hat nicht gezählt. Sie zeigte eine Mailboxgröße von 450 MB an. In heutigen Zeiten keine Menge, die einen PC einknicken läßt und die Systemadministratoren haben wohl schon lange den Kampf um die 80 MB-Barriere verloren.

Ein konzernerfahrener Kollege meinte einmal, die Mailbox würde wohl bis zur Pensionierung verschlossen bleiben. Dann würde man sie öffnen, alle Mails ausdrucken und dem glücklichen Rentner in einem vielbändigen Werk gebunden zur Verfügung stellen.

Wie kommt es, daß eine nicht anwesende Person so viele Mails bekommt, wobei es niemandem auffällt, daß der Empfänger sie nicht liest? Man bedenke, es gab eine "out of office"-Meldung in den ersten sechs Monaten nach dem Umzug. Es scheint wohl so zu sein, daß in unserer schönen neuen Informationswelt nur zählt, wer etwas kommuniziert (und sei es eine Maschine). Ob die Kommunikation auch empfangen wird, ist unerheblich.

Und was bekommt ein weggezogener Expatriate für Information in seine zurückgebliebene Mailbox?

Zunächst einmal drei Newsletter, die sich von der Fehlermeldung nicht beeindrucken ließen. So etwas ist schnell gelöscht, und die Mailbox ist um 2000 Mails erleichtert. Ein Vergessensfehler des Mailboxinhabers, die Ich-lese-das-und-will-es-auch-weiterhin-bekommen-Bestätigung wurde noch nicht erfunden. Es lebe die Sortierung nach Sendern. Das automobile Weltgeschehen fand auch ohne Leser statt. Ohne Mailleser, denn es gab die Info auch via Webbrowser.

40 Einladungen zu diversen Cocktailparties, Präsentation und anderen, bei denen der Eingeladene aber nicht abging. Es gab kein einziges Bedauern, daß man nicht gekommen war. Dazu eine Einladung nach Prag. (Eine liebe Kollegin hat den Fehler gemerkt und sie direkt weitergeleitet - wichtige Dinge kommen durch, wenn man die richtigen Leute um sich hat!)

17 Produktanpreisungen (man war ja auch irgendwie Entscheider) und zwei Karrieregelegenheiten.

20 Leute berichteten über ein EDV-Problem, daß sie gerne gelöst gehabt hätten. Eine Aufgabe kam vom Chef.

26 Informationen zum vergünstigten Kauf eines Firmenwagens. Tausende andere Arbeitnehmer würden viel davon geben, solche Konditionen zum Kauf eines Autos einer nicht ganz unbekannten Marke zu bekommen. An mir fuhr diese Gelegenheit vorbei.

1 Virus.

5 Urlaubsanträge.

Drei Angebote für einen Hotelaufenthalt von der Schulungsabteilung.

130 Hinweise der Mailbox, man solle doch die Out-of-Office Mitteilung abstellen. Dann hat die Maschine aufgegeben.

100 Informationen der Kommunikationsabteilung mit Hinweisen auf das Programm des Firmenfernsehens. Man gesteht, man hat keine Sendung angesehen. Vielleicht wurde der Fernsehsender deswegen eingestellt.

Zwei Mails bezüglich eines Controllerworkshops. Dort wird üblicherweise diskutiert, wo die Chefs wollen, daß man Geld spart. In den Mails ging es darum, daß man den Workshop aus Kostengründen abschaffen will.

20 Informationen des Kunstforums des Konzerns. Der Expat wußte gar nicht, daß so etwas existiert. Anscheinend hat der Controller des Kunstforums auch nie eine Einladung zum Controllerworkshop erhalten...

Zwei Mails, geschickt ca. zwei Jahre nachdem der Zugang zur Mailbox verloren ging. Die erste, daß die Mailbox bald gelöscht werde und die 2., daß diese Löschung gestoppt wurde. Eine geheimnisvolle Macht wollte der Mailbox an die Speicherplatte und eine weitere geheimnisvolle Macht hat das gestoppt. Wieso? Daß weiß der Prozeßorganisator.

Ein großer Chef schrieb, daß er eine neue Handynummer habe. Es war der einzige Kontakt in den fast drei Jahren. Vielleicht hätte man anrufen sollen?

410 Nachrichten, daß ein Computersystem ausgeschaltet und wieder eingeschaltet wurde. Dies innerhalb von elf Monaten. Die armen Kollegen, die damit arbeiten müssen. Das Passwort zu diesem System kam mit einer anderen Mail. Nie mußte der Expat mit diesem System arbeiten.

12 Einladungen zu Know how-Events, zB zum Thema "Erfolgreiche Wissenskommunikation". Ob dort über eMail gesprochen wurde, blieb unbekannt.

Einige hundert verschiedene Anfragen. Viele haben sich einfach durch die Zeit erledigt. Bei einigen kam eine Erinnerungsmail. Oft war der Empfänger nur in Kopie. In wenigen Fällen hat jemand zum Telefonhörer gegriffen und nachgefragt.

Sieben Einladungen zum Konzernsport, ua. zu einem Golfkurs. Eine interessante Idee der Mitarbeitermotivation. Speziell wenn man in einem Land lebt, wo Golfplätze so häufig sind wie Hinkelsteinweitwurfbahnen in Westeuropa.

Zahlreiche Informationen vom Vorstandsvorsitzenden. Er erklärt die Lage, die aktuellen Probleme, die ergriffenen Maßnahmen, die baldige Besserung. Er bittet um Mitarbeit. Die alphabethische Sortierung führt dann zur nächsten Information einige Zeit später. Was hat sich geändert? Eigentlich nur der Name des Vorstandsvorsitzenden.

Und zu guter letzt einige Informationen eines Programms, daß sich EXACT nennt: EXpatriation As Chance for Talents. Man scheint irgendwie dazuzugehören zu diesen Talenten. Man läßt sich expatriieren, die Mailbox bleibt verschlossen, die Abwesenheit wird nicht bemerkt. Man wird vergessen, keiner ist beunruhigt, weil auf die Mails keine Antworten kommen. Man kann jahrelang in einer hoffentlich angenehmen Stellung fern der Zentrale verbleiben.

Diese Chance geht verloren, wenn man der Versuchung nicht widerstehen kann, seine Mails doch zu lesen. Der geneigte Leser dieses Berichtes sei hiermit gewarnt.

(Post Scriptum)


Akt. am 19. Dez 2010