von einem, der auszog und seine Mailbox zurückließ

Frühe Völker verließen ihre Höhlen und ließen ihre Wandgemälde zurück. Kreuzfahrer zogen in Richtung heiliges Land und versperrten ihre Frauen in Keuschheitsgürteln. Heutige Expatriates wechseln das Land und lassen ihre Mailbox zurück. Eine wahre Geschichte.

Der Nikolaustag des Jahres 2006 wird in langer Erinnerung bleiben, denn an diesem Tag bekam ein braver Angestellter seinen Zugang zu seiner Firmen-EMail zurück, der ihm über zwei Jahre verwehrt war. Wie konnte das geschehen, daß wir in den heutigen Zeiten des Informationszeitalters, der Effizienzprogramme und neuen Managementmodelle jemanden von der Lebenslinie der modernen Kommunikation abschneiden? Nun, es war der Wechsel von dem Land F mit der Infrastruktur AG (und einer Software der Firma I) in das Land S mit der Infrastruktur Doo (und einer Software der Firma MS). Eigentlich sollte das in einem großen Konzern nicht passieren, wo doch alle Systeme welkommen sind. Aber irgendwie hatte man sich konzernseitig doch auf die Seite eines Systems geschlagen, die technischen Voraussetzungen dafür waren aber nicht bis in das letzte und kleinste Land dieser großen Firma gedrungen, und die notwendigen Budgets auch nicht. Vielleicht hatte das kleine Land auch so oft den Namen und die Grenzen geändert, daß man es einfach vergessen hatte. Oder man wollte einfach warten, bis sich die Lage in der Region geklärt und stabilisiert hatte, was aber in den letzten 150 Jahren noch nicht passiert war. Oder man dachte an das Bismarck-Wort, daß die Region nicht die müden Knochen eines einzigen Preußischen Musketiers wert sei. Wer soll sich denn schon zwischen Slowenien, Slowakei und Slawonien, zwischen der Republik Serbien und der serbischen Republik, zwischen Transnistrien, Moldanien und Moldawien zurechtfinden? Als ob Europa nicht schon komplex genug wäre.

Wie dem auch sei, die Systeme waren unterschiedlich, das neue Land hatte ein billiges System und man konnte jeden Tag eMails via Internet senden und empfangen, und das mit einer benutzerfreundlichen Software. Dem Expat ging also seine alte Mailbox nicht wirklich ab.

Einzig eine Sache bereitete ihm Kummer: wie bekommt man die Information, daß er nun eine neue EMail-Adresse hat, in die Köpfe (bzw. eintippenden Finger) seiner Korrespondenten? Sicher, jeder neue Kontakt außerhalb seiner Firma würde die Adresse ganz einfach von seiner neuen Visitenkarte abschreiben. Die meisten seiner alten Kontakte würden sie ohnehin nicht benötigen, und die wirklichen Freunde würden den geistigen Schritt "neue Stelle, neue EMail" ganz von alleine machen, zudem es ja die entsprechenden Hinweise gab.

Aber die Kollegen in der Zentrale, die tun sich da schwer. Denn die alte Adresse gab es ja noch. Die Mailbox lag vielleicht verborgen irgendwo auf einem Server fern von ihrem Besitzer, halb vergessen und darob beleidigt. Aber die Adresse, die wehrte sich gegen die Konkurrenz der neuen, die ihr auch noch so ähnlich sah. Sie verteidigte ihre Position im Namensverzeichnis. Sie schlich sich in die Computer und verdrängte die Rivalin. Wer auch immer den Namen des Expats tippte, sah sie. Und oft nur sie. Man müßte sie zurückschieben, die andere hervorheben, extra in seine Verzeichnisse aufnehmen. Trotzdem würde die alte Adresse sich vordrängeln. Entlassene Emailadressen sind wie geschiedene Ehepartner. Sie verschwinden nicht, sie sind beleidigt. Und so gelangten doch zahlreiche Mails an die alte Adresse, die unzugänglich verschlossene. Die neue Mailbox erfuhr nichts davon.

Der Absender schon. Er bekam eine Antwort, eine automatische. "Out of office" heißt das im Technospeak, mit Angabe der neuen Adresse. Aber pro Sender gibt es das nur einmal. Und sei es, daß der Expat vor seiner Abreise dies vergessen hatte, sei es, daß es technisch nicht anders möglich war, jedenfalls sechs Monate nach seiner Übersiedlung schaltete das System auch diese Funktion wieder ab.

Es gab sogar noch eine Zugabe zur technischen Situation: weil das System AG noch andere Funktionen hatte, wurde die Software der Firma I doch auf dem Computer des Expats installiert und eine Verbindung über eine Telefonleitung installiert. Das war zwar langsam und teuer, aber es funktionierte. Für die anderen Funktionen. Der Zugang zur Mailbox war nicht möglich.

Es ist ebenso müßig, die technischen Hintergründe zu erforschen, warum man auf die alte Mailbox nicht aus dem neuen Land zugreifen konnte. Kurz gesagt, es war jedem klar, daß es technisch möglich sei, aber nicht unbedingt, wie es zu geschehen hatte. Sicher, es gab eine Prozedur für diesen Vorgang. Für einen großen Direktor, so berichtete mir dieser selber, war die Lösung immerhin schon nach zwei Monaten implementiert. Aber für einen kleinen Direktor?

Die Anfrage wurde freilich gestellt, und Fachleute aus dem Land S sprachen mit den Fachleuten des Landes F in der Sprache E. Was mindestens so komplex ist wie die Kompatibilität der Sonderzeichensätze der entsprechenden Länder, die von Computern der Sprache E gerne ignoriert werden. Kurz gesagt: man informierte sich gegenseitig, alles Notwendige sei getan. Die Tatsache, daß die Lösung nicht vorhanden war, blieb dabei Nebensache.

Immerhin wurde nach 18 Monaten festgestellt, daß die Mailbox jetzt in die Zentrale verschoben worden war, und das ca. ein Jahr vor dieser Feststellung. Was zur Lösung nicht beitrug, denn nun wußte niemand genau, wohin die Mailbox verschoben worden war. Bei einem zweiten Versuch nach 24 Monaten war der Expat inzwischen aus der Abteilung D in die Abteilung E gewechselt. Das verschob die Zuständigkeiten. Die Lösung blieb weiter unentdeckt.

Man sollte vielleicht doch erwähnen, daß die Antwort auf die unangenehme Frage nach einer anscheinend nicht selbstverständlichen Leistung nicht etwa eine Ablehnung der Anfrage war, zB ein "fin de non recevoir", ein Götz-Zitat oder die im Zielland ortsübliche Aufforderung zu sexuellem Kontakt mit einem nahen Angehörigen. Nein, es kam immer eine Antwort: "Das geht soundso". Lediglich, es ging nicht. Der Fachmann konnte nicht demonstrieren, daß die fachmännisch gegebene Lösung funktionierte. Etwaige technische Einwände des Expats und Nichtfachmanns, der auf gewisse Unterschiede in den Basisannahmen hinwies, wurden disqualifiziert. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. War der Expat nicht dafür zuständig, die notwendigen erheblichen Budgets zu besorgen. Er hätte doch eine funktionierende Lösung durch eine andere zu ersetzen, damit die verschwindend kleine Minderheit der Expats die gewohnte Umgebung wiederfinden? Es wurde ernsthaft erwogen. Lediglich die EDV-Abteilung fand das weniger toll, denn dieser kleine Fortschritt wäre nur um den Preis von sieben Jahresgehältern zu haben gewesen. Oder anders gesagt, es wäre billiger gewesen, einen Mitarbeiter einzustellen, der die Nachrichten mit dem Auto in die Zentrale führe um sie dort zu übergeben.

Nach 30 Monaten gab es einen neuen Ansatz. Inzwischen war eine funktionierende Lösung für zwei andere Expats installiert, die das Glück hatten, aus einem anderen Land als F zugewandert zu sein. Die technologische Herausforderung reizte doch zu sehr. War der Expat nicht früher EDV-Leiter und Ausbilder gewesen? Hatte er nicht bereits zu einem Zeitpunkt EMail-Verbindungen installiert, als es das Wort Internet noch nicht gab? Hatte er nicht eine wissenschaftliche Arbeit zu diesem Thema geschrieben, als sein Professor EMail noch für eine Spinnerei hielt und den Siegeszug des Faxes voraussagte? (Die Arbeit wurde mit "ausreichend" bewertet und trübte das "Sehr gut" in Informatik). Hatte er nicht als erster in der Firma ein EMail-Konto eingerichtet, ja sogar das Konto seines Kollegen in der Zentrale aus seinem Budget bezahlt, um mit ihm rasch Daten austauschen zu können? Die EMail war damals nach seinem Abgang sofort abgeschafft worden, um nach drei Jahren erneut eingeführt zu werden, diesmal auf Befehl der inzwischen technologisch nachgefolgten Zentrale. Zu höheren Kosten. Jedenfalls, der Teufel ritt den Expat.

Es war aber auch etwas anderes geschehen. Der Expat hatte sich an die seine neue Landeskultur gewöhnt. Im neuen Zielland wäre es jedem Bürger unnatürlich erschienen, eine Dienstleistung von der verantwortlichen Stelle direkt zu verlangen. Zum Beispiel für einen Internetanschluß einfach zum Verkäufer zu gehen, den Antrag auszufüllen, zu bezahlen und sich wenige Stunden danach zu verbinden. Dieser direkte Weg des brutalen Kapitalismus mangelt an Menschlichkeit. Der natürliche Weg für einen solchen Wunsch wäre es, einen Mitarbeiter damit zu beauftragen, der zufällig in einer anderen Stelle einen Kollegen hat, der wieder eine nette Dame in der anderen Firma kennt, die weiß, wen man dort fragen kann, damit schließlich der zuständige Mitarbeiter unter Hinweis auf die Bekanntheit der Automobilmarke, die der ursprüngliche Bedarfsträger vertritt, den notwendigen Internet-Anschluß vornimmt. Der Gedanke, daß man zum Glanz dieses für die meisten Bürger unerreichbaren Sterns beigetragen hat, motiviert eben mehr als die schnöde Vorstellung, für Mammon einfach zur Lösung eines Problems in seinem Arbeitsbereich beizutragen.

Dieser Weg funktionierte aber auch in der großen Firma. Ein freundlicher Personalchef verwies auf einen nicht näher definierten Herrn. Ein Kollege meinte bei der Suche nach diesem Herrn, daß man eigentlich einen ganz anderen Herren fragen könnte. Dieser verwies auf einen hilfsbereiten weiteren IT-Experten, und der leitete das Problem dann wirklich an die zuständige Abteilung weiter. Nachdem der ursprüngliche Dienstweg weiträumig umgangen und die zuständige Abteilung trotzdem erreicht war, ging alles blitzschnell. Zwei kurze Tests der Fachleute, ein zehnminütiges Telefonat und zwei eMails später war das Problem gelöst.

Die alte Mailbox tat sich auf. Mit den ungelesenen eMails von 30 Monaten.

(Fortsetzung).


Akt. am 19. Dez 2010