Galitzianer: Österreicher, Polen, Ruthenen oder Juden?

<Galizien>

 

von einer Forumsdiskussion über die Nationalität der galizischen Juden:

Galizien war zwischen 1772 und 1918 Teil von Österreich bzw. Österreich-Ungarn. Polen hatte nach der dritten Teilung - mit einer kurzen Unterbrechung unter Napoleon - bis 1918 aufgehört, als unabhängiger Staat zu existieren.

Aus der Sicht der Staatsbürgerschaft, mit Paß und Wehrpflicht, handelte es sich also um Österreichisch-Ungarische Staatsbürger, wie alle anderen Bewohner des Reiches. Nach dem Ausgleich 1867, der das Land in ein kaiserlich-österreichisches und ein königlich- ungarisches Gebiet teilte, war Galizien Teil der österreichischen Kronlande, "der im Reichsrat vertretenen Gebiete", wie dies offiziell hieß. Beide Teile bildeten ab 1867 die kaiserliche und königliche (k.u.k) Monarchie.

In der Monarchie gab es aber viele Volksgruppen, die sich nach der Sprache unterschieden, die sie als ihre Muttersprache in der Volkszählung angaben. In einer Stadt wie Lemberg konnte sich jemand als Deutscher erklären, sein Nachbar als Ruthene (=Russisch, heute ukrainisch, sprechend) und ein dritter als Pole. Jiddisch war meines Wissens keine offizielle Sprache. Die österreichisch-ungarische Armee kannte elf offizielle Sprachen, in der das Armeereglement gedruckt wurde.

Galizien = Deutsch
Galicia [ga-li-scha] = Englisch
Galicja [ga-li-tz-ja] = Polnisch
[ga-li-tz-ye] = Jiddisch
[ga-li-tz-ya] = Hebräisch

Quelle: Shuki Ecker

Jude zu sein war eine Frage der Religionszugehörigkeit. Die Religionsgemeinschaften - in Österreich bis zum Anschluß 1938 durch Hitler - waren für die Personenregister zuständig. Dh ein Jude würde in seiner Gemeinde eine Geburt, Hochzeit oder Todesanzeige registrieren, ein Griechisch-Katholischer in seiner Pfarrei, und ein Protestant HB, ein Protestant AB, ein Römisch-Katholischer ebenso in seiner jeweiligen Gemeinde. 

Die Österreichisch-Ungarische Armee kannte fünf Hauptreligionen und hatte demnach fünf verschiedene Uniformen für die jeweiligen Militärgeistlichen bzw. Feldrabbiner.

Davon unabhängig war die "Heimatzuständigkeit", dh. welche Ortsgemeinde für jemanden zuständig war. Grob gesagt könnte man heute im Sinne des bundesdeutschen oder österreichischen Rechtes sagen, wo eine Person gemeldet ist und wählen geht, wobei es da auch Varianten gibt wenn eine Person aus einem Ort stammt, aber in einer anderen lebt, zB um dort zu studieren. In den meisten Fällen war es die Gemeinde, wo jemand geboren wurde. Diese Zuständigkeit war wichtig, denn die heimatzuständige Gemeinde mußte für die Sozialleistungen aufkommen. Wenn nun Galizier zB nach Wien übersiedelten, konnte trotzdem die ursprüngliche Gemeinde noch Heimatzuständig sein. Einer meiner Vorfahren, in Galizien geboren, war in der Stadt Steyr heimatzuständig, in der er aufgewachsen war; auch wenn er seid seinem 18. Lebensjahr durch Studium und als Berufssoldat nie mehr dort lebte. Eine Gemeinde konnte die Heimatzuständigkeit für eine Person auch ablehnen bzw. hinhalten. Auf jeden Fall gab es aber keine "jüdische" Heimatzuständigkeit, sondern nur die einer Gemeinde, die in Galizien oft eine Gemeinde mit hohem Anteil von Juden sein konnte.

Eine weitere Frage ist die der Kultur. Soma Morgenstern schreibt in seinem Buch "In einer anderen Zeit", daß in seiner Familie Jiddish, Deutsch, Ruthenisch und Polnisch gesprochen wurde und daß seine Familie in dieser großen Kulturvermischung recht glücklich lebte, die ja auch die Stärke und den Charme des österreichisch-ungarischen Reiches ausmachte. Andere mögen sich vielleicht mehr als Deutsche gefühlt haben, trotzdem sprachen sie meist mehrere Sprachen und wurden von den anderen Kulturen beeinflußt. Die Frage ob Jude 'ODER' etwas anderes würde ihnen als komisch erscheinen,  'UND' würde für die meisten die Antwort gewesen sein bis der Geist des Nationalismus sich in vielen Gebieten gegen Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete.

Als Antwort, die Frage Jude oder Österreicher (oder Pole, Ruthene, ..) ist nicht die richtige Frage. Jemand konnte Jude (= in einer jüdischen Gemeinde registriert), Pole (durch seine Sprachangabe in der Volkszählung), Galizier (durch seine Heimatzuständigkeit) und Österreich-Ungar (mit seinem Paß und durch seinen Wehrdienst) sein und täglich Jiddisch sprechen.

Nationalität hatte nicht die selbe Bedeutung wie heute. Das Überschreiten von Grenzen war damals leichter als heute. Dies änderte sich erst nach der Aufspaltung Österreich-Ungarns nach dem ersten Weltkrieg. Die Heimatzuständigkeit entschied meistens die Staatsbürgerschaft, auch wenn es oft eine Möglichkeit gab, für eine andere Nationalität zu optieren.