Traktat über das Wiener Kaffeehaus 

von Friedrich Torberg

Von den Lipizzanern der Spanischen Hofreitschule bis zu Burg und Oper, vom Restaurant Sacher bis zur Konditorei Demel .. sind es die funktionierenden Legenden, die das Charakterbild Wiens entscheidend mitbestimmen. Die weitaus komplizierteste dieser Legenden ist das Wiener Kaffeehaus. Versuchen wir, uns der Komplikation auf geradem Wege zu nähern. Bilden wir einen reinen, einfachen Aussagesatz: "Ein Gast sitzt im Kaffeehaus und trinkt Kaffee." Man sollte meinen, daß dieser Satz an Klarheit nichts zu wünschen übrigläßt. In Wahrheit läßt er alles zu wünschen übrig. Er sagt zwar etwas aus, aber er besagt nichts. Kein einziger Begriff, mit dem er operiert, ist eindeutig. Vielmehr stellt sich sofort eine Reihe weiterer Fragen, von denen wir hier nur die drei wichtigsten anführen wollen: 

  1. Wer ist der Gast?
  2. In welcher Art von Kaffeehaus sitzt er?
  3. Was ist es für ein Kaffee, den er trinkt?

Die letzte Frage läßt sich am leichtesten - und für den Laien am Leichtesten verständlich - beantworten. Auch dem Laien wird es einleuchten, daß man etwa in London nicht zur Cunard Line gehen und auf die Frage, was man wünsche, nicht einfach antworten kann: "Ein Schiff". Ebensowenig kann man in ein Wiener Kaffeehaus gehen und einfach "einen Kaffee" bestellen. Man muß sich da schon etwas genauer ausdrücken. Denn die Anzahl der Gattungen, Zubereitungsarten, Farben und Quantitäten, unter denen es zu wählen gibt, hat keine Grenzen oder hat sie erst in nebelhafter Ferne, und wer da nicht irregehen will, wird gut tun, sich wenigstens ein paar Grundbegriffe einzuprägen. Sonst könnte er versucht sein, die Bestellung "Nussbraun", die der Kellner soeben in lässiger Verkürzung an die Küche weitergegeben hat, lediglich für die Farbangabe des bestellten Kaffees zu halten, indessen sie sich doch in erster Linie auf das Größenmaß der Schale bezieht, in der er serviert wird; sie würde vollständig nicht etwa "eine Schale nussbraun", sondern "eine Nußschale braun" zu lauten haben. "Nußschale" bezeichnet in sinnvoll-poetischer Chiffre das kleinste der drei gebräuchlichen Größenmaße. Das mittlere heißt "Piccolo" und darf nicht mit dem gleichnamigen Zuträgerlehrling verwechselt werden, der in der Kellnerhierarchie den untersten Rang innehat und sozusagen die Nußschale unter den Kellnern ist. Als oberstes Größenmaß gilt die "Teeschale", die, wenn sie tatsächlich Tee enthält, nicht "Teeschale" heißt, sondern "eine Schale Tee" (unter "Tasse" versteht man in Wien die Untertasse). Was die Zubereitungsarten betrifft, so muß man heute den "normalen" Kaffee oft schon eigens verlangen, sonst bekommnt man automatisch einen nach der Espresso-Methode hergestellten. In vielen Lokalen gibt es gar keinen andern mehr, zumal in den kleineren, die sich zwei verschiedene Maschinen nicht leisten können und die rentablere Espresso-Maschine vorziehen. Der Espresso kann "kurz" oder "gestreckt" zubereitet werden, je nach der Menge des verwendeten Wassers. Als "Kurzer" verdrängt er allmählich den einst seiner Stärke wegen geschätzten "Türkischen", der in der Kupferkanne gekocht und serviert wird. Der in Frankreich beheimatete "Café filtre" hat sich in Österreich niemals durchgesetzt. Und daß in den als "Espresso" bezeichneten Lokalen kein "normal" gekochter Kaffee ausgeschenkt wird versteht sich von selbst. Es war aber dieser "normale", auf "Wiener" oder "Karlsbader" Art zubereitete Kaffee, der den Ruhm des Wiener Kaffeehauses begründet hat und die Vielfalt der möglichen Bestellungen bis heute gewährleistet, dem wir die "Melange" verdanken und den "Kapuziner", den "Braunen" und die "Schale Gold" - Bezeichnungen, deren manche bereits offenbaren, in welchem Verhältnis Kaffee und Milch gemischt sind: bei der "Melange" zu ungefähr gleichen Teilen, bei der "Schale Gold" mit einem deutlichen Übergewicht der Milch, beim "Braunen" mit einem ebenso deutlichen Übergewicht des Kaffees, beim "Kapuziner" mit einem noch deutlicheren. Die Kenntnis dieser Kombinationen ist für eine halbwegs fachmännische Bestellung unbedingt erforderlich. Hinzu kommen der keiner Erklärung bedürftige "Schwarze" oder "Mokka", der "Einspänner" (ein Schwarzer im Glas mit sehr viel Schlagobers), der "Mazagran" (ein durch Eiswürfel gekühlter, mit Rum versetzter Mokka) und eine schier unübersehbare Menge von Variationen der oben angeführten Grundfarben, je nach Neigung und Sekkatur des Gastes, und gewöhnlich durch ein an die Bestellung angehängtes "mehr licht" oder "mehr dunkel" angedeutet. Ein Perfektionist unter den einstigen Kellnern des Café Herrenhof trug ständig eine Lackierer-Farbscala mit zwanzig nummerierten Schattierungen von Braun bei sich und hatte den erfolgreichen Ehrgeiz, seinen Stammgästen den Kaffee genau in der gewünschten Farbtönung zu servieren. Bestellungen und Beschwerden erfolgten dann nur noch unter Angabe der Nummer: "Bitte einen Vierzehner mit Schlag!" oder "Hermann, was soll das? Ich habe einen Achter bestellt, und Sie bringen mir einen Zwölfer!" Aber das waren Mätzchen, die über ihren engeren Ursprungsbezirk nicht hinauskamen und keine Allgemeingültigkeit beanspruchten, so wenig wie der "Sperbertürke", ein doppelt starker, mit Würfelzucker aufgekochter "Türkischer", den der Wiener Rechtsanwalt Hugo Sperber, im Café Herrenhof, vor anstrengenden Verhandlungen einzunehmen liebte; oder der "überstürzte Neumann", die Erfindung eines anderen, Neumann geheißenen Stammgastes, die darin bestand, daß das Schlagobers nicht auf den bereits fertigen Kaffee, sondern auf den Boden der noch leeren Schale gelagert und sodann mit heißem Kaffee "überstürzt" wurde.

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